Mittwoch, 22. Juni 2011

Zeugen der Vergangenheit


An meinem letzten Tag in Ostfriesland  führt meine Gastgeberin, Margritt Kubik-
Harms. mich auf eine Reise in die Vergangenheit, die ich ja auch in meinen Büchern immer
wieder antrete. Wir beginnen schräg gegenüber vom Gulfhof Ihnen in Engerhafe –
mit der evangelisch-lutherischen Kirche „Johannes der Täufer“. Viele Kirchen habe ich
auf meiner Reise durch Deutschland schon sehen und bewundern dürfen, wie zum
Beispiel den Dom zu Mainz und die St Stephans Kirche mit den blauen Fenster Marc
Chagalls. Die bedeutende gotische Stiftskirche St Peter in Bad Wimpfen. Oder kleine
Kirchlein, die hoch auf Felsen am Rhein klebten, deren Zwiebeltürmchen einst tapfer
 Angreifern die Stirn boten. Jedoch passen für mich die strengen Kirchen
Norddeutschlands in mein Lebensbild. In so einer Kirche, die mit ihrem Schiffsmast-
ähnlichen Turm auf den Stürmen des Lebens schaukelt, bin ich getauft und  konfirmiert
worden. Ich mag den roten Backstein, der nur durch die bunten Fenster unterbrochen
wird, liebe das klare Innere, die fast schmucklose Kargheit. Aber nicht nur, um mir diese
Kirche zu zeigen, hat Margritt mich hierher gebracht. Auf einem Spaziergang über den
Friedhof führt sie mich auch zu den 188 Gräbern, die die Opfer des Lagers Engerhafe
bergen. Sie waren politische Gefangene aus verschiedenen Teilen Europas und
Deutschlands, die ins Lager Engerhafe gebracht worden waren, um um Aurich einen
 Panzergraben zu errichten. Die, die an Hunger, Kälte, der schweren  Arbeit und den
 entsetzlichen Bedingungen starben, wurden in einer Grube, die zu einem  Massengrab
wurde, verscharrt. 1952 wurde das Massengrab geöffnet, um den Ermordeten ein
würdiges Begräbnis zu beereiten. Der Verein Gedenkstätte KZ Engerhafe * sammelt die
Erinnerungen der überlebenden Opfer – auch derer, die damals  hilflos mit ansehen
mussten, was da auf dem von der NS beschlagnahmten Land geschah. Kirchenland war
das, der Garten der Pastorei. Land, das direkt an den Schulhof grenzte. Im historischen
Pfarrhaus Engerhafes, das 1944 sogar die Kommandantur des KZs Engerhafe stellen
musste, befindet sich eine beeindruckende Ausstellung. Bilder des Auricher Lehrers
Herbert Müller, die das Leben im KZ wiedergeben. Bilder, die anklagen, die aufrufen, die
erinnern und uns nachdenken lassen. **
Und ich bin aufgerührt von dem Mut der Menschen, die die Vergangenheit nicht länger
totschweigen, sondern wieder auferleben lassen.
Mit den folgenden Worten eröffnet Pastor Diekmann die Gedenkveranstaltung „Das
Fenster öffnen“ am 23.10.2010:    
„Wenn wir hier sitzen, dann schauen wir auf den wunderbaren Altar und dort auf das Bild
des leidenden Christus. Wir können es aushalten, auf dieses Leid zu schauen. Und
deshalb können wir es auch aushalten, uns das Leid derer zu vergegenwärtigen, die
damals hier im Lager gelebt haben und gestorben sind. Wir können es auch deswegen
aushalten, weil das Leid Jesu eine Perspektive hatte, nämlich die Versöhnung und das
 Leben. Die Auferstehung, die Sie ganz oben auf dem Altar dargestellt sehen.
Versöhnung und Leben – darin sehe ich auch eine Perspektive für diese
Erinnerungsarbeit. Versöhnung, das ist ein großes Wort und eine große Sache. Ich
glaube, Versöhnung ist ein Geschenk Gottes. Meine Hoffnung ist, dass hier in Engerhafe
Versöhnung geschehen wird, in der Begegnung zwischen Menschen, vielleicht sogar eine
Versöhnung mit der Tatsache, dass es dieses Lager in Engerhafe gegeben hat, dass
Menschen Zeugen geworden sind und wir deswegen die Aufgabe haben, an das
Geschehene zu erinnern. Erinnern heißt Leben, heißt, dass wir die Namen der Toten, das
 Schicksal der Menschen nicht vergessen, sondern ein Stück ins Leben zurückholen. Und
deswegen finde ich es gut, dass wir uns hier in der Kirche treffen, die mitten im Leben
 steht, und ich halte es für gut und richtig, wenn wir in einigen Jahren der
Gedenkstätte in unserem Historischen Pfarrhaus Raum geben können, das dann ein
Gemeindehaus sein wird ...“

**Carl Osterwald, Die Katastrophe „Du kannst nichts machen“, Herausgeber: Verein Gedenkstätte KZ Engerhafe  E.V.


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