21. Mai 2011
Einst war da eine Frau, die hieß Alma Ihnen. Die lebte in einem Gulfhof in Engerhafe,
Ostfriesland. Gulfhöfe sind typisch für diesen Teil Ostfrieslands. Der Außenbau
unterscheidet sich vom niedersächsischen Fachwerkhaus durch seine schmucklosen
Mauerwände und Giebel. Bis zu 10 m lange Pfähle mussten in den Boden gerammt
werden, um das Gebäude in der tragenden festen Sandschicht sicher zu verankern. Das
Vorderhaus wurde in der Regel bis zur Erdgeschoßdecke aufgemauert, der obere Teil des
Daches wurde in Reet gedeckt. Wohn- und Wirtschaftsteil schließen aneinander an,
getrennt nur durch eine Brandmauer. Die besondere Bauweise, die aus ‚Ständern’ und
Quer- und Längsbalken besteht, die Raum (‚Gulf’) zwischen vier Ständern schafft, gibt
dem ‚Gulfhaus’ seinen Namen.
Der Gulfhof Ihnen wurde erstmalig im Jahre 1547 erwähnt. Er gehört zu den ältesten Hofstellen im Ort. Alma Ihnen, die letzte Besitzerin, übergab den Hof 1991 an die Gemeinde Südbrookmerland. Er sollte zu einer Begegnungsstätte werden, in der ostfriesisches Brauchtum zuhause ist. Alma Ihnen wollte die Kultur in der Gemeinde fördern. Im Gulfhof sollten z. B. örtliche Theatergruppen, Chöre und Freizeitkünstler eine Heimat finden. Regelmäßig finden jetzt Theateraufführungen, Lesungen, Ausstellungen und Folk-Konzerte usw. statt, ein besonderer Schwerpunkt ist die Pflege der plattdeutschen Sprache.
Margritt Kubik-Harms ist die erste Vorsitzende und Veranstaltungsorganisatorin des Vereins Gulfhof Ihnen, und sie stellt unermüdlich ganz tolle Programme zusammen – auch Otto Groote, Ralf Strotmann und Matthias Malcher (das Otto Groote Ensemble) und Freunde treten regelmäßig dort auf. Und nun darf ich an einem ihrer Abende teilnehmen! Schon am Tag zuvor hat Margritt mir den Gulfhof vorgestellt. In dem größten Raum des Hofes, dem Gulf, befindet sich eine Bühne. In gemütlich schummriger Dunkelheit stehen lange Tische zwischen den riesigen, alten Pfählen. Festlich geschmückt erwarten sie des Abends Publikum, das dann auch pünktlich eintrifft. Viele kennen sich von vorherigen Konzerte, einige Fans reisen von weither an, lassen keins der Otto Groote Konzerte aus. Kein Wunder, denn die Musik feuert ein, nimmt einen mit auf Traumreisen, die teils wie in De anner Steerns an d‘ Heven in die Ferne führen (De Bulgen ropen luud mien Namen, Ik sall noch eenmal mit hör komen. Dat Lengen treckt mi rut ud d‘ See – Die Wellen rufen laut meinen Namen...), teils wie in Heven is för de Engels das Los der „Moorhantjes“ beschreibt, der Moorarbeiter, zu denen noch Ottos Großvater, sein Vater und dessen Brüder gehörten. Oder es kommt so etwas Aktuelles wie Dat Blockhuus, welches das Gefängnis beschreibt, das die Veteranen des Koreanischen Krieges (und später des Vietnam-, des Golf- und neuerdings des Irak- und Afghanischen Krieges) in ihrem Kopf mit sich führen. Das Publikum kennt die Lieder, es schaukelt sanft im Takt, summt leise mit oder fällt, als Otto uns einlädt, leicht in den Refrain ein: Laat mi hörn de Musik ...
Fast finde ich es zu schade, die Jungs zu unterbrechen, als ich dran bin und lesen muss. Aber wieder fügen meine Texte sich wunderbar in den Rahmen der Musik ein – heute lese ich aus Die Frau des Marschbauern, dieser bitter-süßen Liebesgeschichte um die verschwundene Bäuerin, Amalie Brodersen. Sogar die Gegend, in der wir uns befinden, spielt eine kleine Rolle im Buch, und das Fernweh und die Sehnsucht nach der Heimat ...
Noch nie habe ich in so einem Rahmen gelesen. Ich werde mitgerissen - vom Eifer des
Publikums, von der Hingabe, mit der Otto, Matthias und Ralf Stimme und Instrumente
herausfordern, mich einschließen, teilhaben lassen. Und ich gebe mich einfach der Freude
hin, die dieser Abend auslöst, den ich sooft versucht habe, mir vorzustellen, wenn ich den
CDs zuhörte, und mir überlegte, wie wird es wohl sein, die Drei live zu hören ...
Erst nach großzügigen Zugaben der Band räumt das Publikum den Saal. Und alle die, die
mitgewirkt haben, lassen sich nieder zu einem Festmahl, das Margritt vorbereitet hat.
Eine typische ostfriesische Mahlzeit: Snirtjebaten. Schweinefleisch mit Piment geschmort
und serviert mit Rotkohl, Rote Beete und Kürbis. Der Appetit wird dem köstlichen Essen
gerecht.
Otto Groote Ensemble: „In’t blaue Lücht van d‘ Nörden“; „De Tied steiht
still“ und „De anner Steerns an d‘ Heven“: Otto Groote Ensemble
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