Sonntag, 31. Juli 2011

Ein bisschen Heimat im Gepäck im Café Klein Helgoland



5. Juni 2011
Im Café Klein Helgoland[1] ist jeder Platz besetzt! Dieses nette, freundliche Café liegt direkt am Sportboothafen, da wo der Deich beginnt. Am schönsten ist die Anfahrt auf dem Fahrrad oder zu Fuß, an der alten Mole entlang, vorbei am Zollhaus und der Wyker Polizeistation, an den Yachten mit ihrer klirrenden Takelage. Größer ist die Überraschung trifft man von der Landseite her ein. Dann kann man das Café nur erahnen, so hoch ist der Deich heutzutage, der rote Backsteinbau ist fast ganz versteckt. Drinnen wird man in Gemütlichkeit getaucht: Blau-weiße Friesenkacheln an den Wänden, blau-weißes Geschirr im Büfet, dunkles Holz, einladende Bänke und ein willkommen-heißendes Team, angeführt von Angela Hartmann. Wir wuchsen nebeneinander auf – sie im Hotel Colosseum, ich in der Firma Bohde nebenan. Angela ist eine wunderbare Gastwirtin. In so einem Ambiente klappt die Lesung – besonders wenn jemand wie Frau Dr. Fuchs[2] die Idee für diese Leseserie hatte. „Föhrer erleben ihre Welt“ hat sie diese Serie getauft, in der Föhrer Schriftsteller einmal im Monat im Café Klein Helgoland bei einem Föhrini Cocktail und einem drei-gängigen Menü ihre schriftstellerische Welt vorstellen. Trotzdem bin ich nervös. Erst zum zweiten Mal stelle ich Auszüge aus einem Buch vor, an dem ich noch arbeite – Ein bisschen Heimat im Gepäck[3]. Ich habe gehört, dass zu diesen Veranstaltungen auch gern Föhrer kommen – ein kritisches Publikum! Und wiederrum bin ich mir gar nicht sicher, ob die Lebensgeschichten deutscher Auswanderer in Australien andere genauso faszinieren, wie sie mich ergriffen haben, als ich sie erst hörte und dann aufschrieb. Deshalb sitze ich den ganzen Sonntagnachmittag im lauschigen Garten des Andelhofs und durchforste meine Manuskripte nach geeigneten Stellen. Ich beginne mit einer kurzen Passage aus Sigfrieds Lenz' Buch "Zaungast" 4 . In dem Kapitel Kookaburra beschreibt er nämlich sehr anschaulich, die zwei Möglichkeiten, sich auf eine Reise in ein fremdes Land vorzubereiten: Alles bis ins kleinste Detail recherchieren oder gar nichts vorbereiten und sich überraschen lassen. Ich wählte 1972, als ich auswanderte, die 2. Möglichkeit! Dann werde ich ein bisschen allgemein über das Auswandererschicksal erzählen, unterstrichen mit zwei Passagen aus meinem Buch Ebbe, Flut und Tod. Eine der vier Romannichten, die ihren Tanten bei dem Auflösen längst vergessener Fälle helfen, Kerrin, lebt in Australien. Bei Lesungen sage ich immer: „Kerrin ist nicht ich. Sie ist viel mutiger, als ich es jemals war. Sie meistert ihr Leben als alleinerziehende Mutter im fremden Land. Aber sie profitiert von meinen Erfahrungen als Auswanderin!“ Also lese ich ein bisschen über Kerrin. Außerdem entschließe ich mich, zwei meiner Gesprächspartner vorzustellen. Marlis ist meine liebe, etwas über 80jährige Föhrer Freundin in Melbourne. Ihre Föhrer Kindheit erlebte sie im zweiten Weltkrieg in dem Dorf Goting. Ihre beste Freundin aus der Zeit, Tinchen, hört zu. Mit ihrem Mann Herbert nimmt sie an diesem Abend teil. Und so ist die Atmosphäre im Klein Helgoland, dass Herbert sich nicht scheut, mir auszuhelfen, als ich über den polnischen Namen der Stadt Gotenhaven, in dem Marlis‘ Vater im Zweiten Weltkrieg stationiert war, stolpere. Er gibt sogar eine kleine impromptu Aufklärung über die Rolle der Stadt! Und als ich vorlese, wie Marlis von ihrem Gesang erzählt, stimmt Tinchen zu: „Singen konnte sie. Aber ihre Schwester Nanni konnte es noch besser!“ Herrlich. Auch in den Pausen überkreuzen sich die Gespräche. Die langen Tafeln laden zum Gespräch ein, hier fühlt sich keiner fremd. Und ich atme durch. Die Geschichten erregen das Interesse des Publikums. Sie wollen mehr wissen, hören aufmerksam zu. Im dritten Teil lese ich aus der Lebensgeschichte Fritz Schwabs, eines Berliners, dessen fast unwahrscheinliche Geschichte des Überlebens im Berlin des Zweiten Weltkrieges auch die Basis für mein Buch Am Galliberg liefert. Ist es zu schockierend, zu krass, was ich vorlese? Nein, das Publikum hört den persönlichen Schmerz und das Leid heraus, die sich hinter der schnoddrigen Ausdrucksweise verbergen. Ähnlich wie in Bad Wimpfen führen die Geschichten zum Austausch von Erinnerungen. Die meisten von uns Anwesenden sind nach dem Krieg geboren worden, viele von uns hören erst jetzt die Erinnerungen unserer Eltern oder Großeltern. Setzen uns erneut mit der Zeit des Dritten Reiches auseinander. Ganz besonders freue ich mich über bekannte Gesichter unter den Gästen – neben Tinchen und Herbert ist Wiebke Heldt da, die beste Fußpflegerin der Welt, der man sich noch besser anvertrauen kann, als seinem Frisör. Leise ist sie reingeflutscht, fast hätte ich sie verpasst. Zwei nette Lehrerinnen des Gymnasiums, mit denen ich bisher nur e-mail Kontakt hatte, sind gekommen. Ein anderer Freund ist Peter Schulze, Redakteur vom Inselboten, der nicht nur als Gast und Freund antritt, sondern auch in seiner professionellen Kapazität. Ein paar Tage später erscheint ein schöner Artikel über den Abend im Inselboten. Und ganz zum Schluss stellt sich ein weiteres Ehepaar vor, die Albrands. Wie ich dieses Ehepaar kennenlernte, ist eine andere Geschichte ... davon erzähle ich ein wenig später. Ja, ein rundherum erhebender Abend. Schade ist nur, dass die Wyker Buchhandlung, die den Büchertisch hätte bestellen sollen, ihren ‚Auftritt‘ verschwitzt hat. Es sind keine Bücher zum Verkauf da ... Die Autorin, die so viel intensive Arbeit in das Marketing für diese Reise gesteckt hat, ist entäuscht ... und lernt wieder dazu: Alles doppelt und dreifach checken und: Unbeantwortete e-mails können bedeuten, dass die Angeschriebenen die mails einfach nicht wahrgenommen haben.


[2] Föhrer Institut für Pädagogische Professionalität Dr. Claudia Fuchs
[3] Sabine Nielsen Ein bisschen Heimat im Gepäck, Herausgabe 2012
4  Siegfried Lenz Zaungast Sieben Reisebeobachtungen. Sonderauausgabe zum Welttag des Buches 2002 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen